Jetzt hier auf dem Schiff hab ich wieder Zeit für die Zeit und die Betrachtungen Levines dazu.
Teil 1 – Die soziale Zeit
Das Tempo
Das Tempo, dass unsere Zeit bestimmt, ist an verschiedenen Orten verschieden und wird auch unterschiedlich wahrgenommen. Was wiederum von immenser Bedeutung sein kann. So zitiert Levine Alvin Toffler:
“… geht es in seinem Buch … um das Tempo, wenn er von der seelischen Zerrüttung spricht, die durch zu starke Veränderungen in einer zu kurzen Zeitspanne hervorgerufen wird. Nicht der Schock der Veränderung an sich löst das Trauma aus, sondern die Schnelligkeit, in der sie sich vollzieht.”
… wie wahr wie wahr. Manches wird allein erst dadurch unbegreifbar, weil es das Tempo der eigenen Verarbeitungsfähigkeit von Ereignissen und Veränderungen durchbricht.
Was aber bestimmt das Tempo?
These: „Je gesünder die Wirtschaft eines Ortes, desdo höher sein Tempo.”
Laut Levine ist der wesentlichste Faktor die Wirtschaft. Hm, naja. Ich denke, die norwegische Wirtschaft ist sicher nicht die ungesündeste. Trotzdem schwebt eine spürbare Ruhe und Gelassenheit durch´s Land. Das widerspräche aber obiger These. Was nun?
In Ländern hoher Löhne wird die Zeit automatisch kostbar, was die Menschen zu einem wirtschaftlichen Umgang mit ihr bewegt. Aber deswegen muss das Leben ja nicht automatisch hektischer werden, wie Levine es darstellt. Ist kostbar nur materiell kostbar? Heißt wirtschaftlicher Umgang nicht einfach erstmal, dass Prioritäten genauer gesetzt werden?
These: „Je entwickelter ein Land ist, desdo weniger freie Zeit bleibt pro Tag.“
Ist das So? Zitat „Je mehr zeitsparende Maschinen es gibt, desdo mehr steht der Mensch unter Zeitdruck.“ (Sebastian de Grazia) … Ja, den Eindruck habe ich auch. Zumindest was meine Arbeit angeht. Was da Mitte der 90-er Jahre noch per Stift und Papier gemacht wurde und heute alles superelektronisch geht, ist enorm. Es bringt jedoch nicht mehr Zeit für die gleichen Aufgaben mit sich. Warum eigentlich?
Levine führt Gründe an, wie:
- technischer Fortschritt führt zu einer Steigerung der Erwartungen
- freie Zeit verwandelt sich in Konsumzeit, da sie, wenn nicht produziert oder konsumiert wird, als verschwendet gilt
- die Annehmlichkeiten des modernen Lebens fordern einen hohen Tribut, nämlich den Zeitaufwand für ihre Erhaltung
Ja, stimmt, Meister im Nichtstun bin ich z.B. wohl eher nicht. Nichts zu planen und sich nichts vorzunehmen für ein Wochenende, das wiederum muss ich mir glatt vornehmen. Automatisch passiert sonst das Gegenteil. Dass ein solches konsum- und produktionsfreies Wochenende echte Befreiung und Erholung bringen kann, hab ich allerdings erst durch Tobi begriffen.
Und ja, Besitz belastet auch, weil er erhalten werden muss. Die Reduktion auf das Wesentliche und die mir wirklich wichtigen Dinge brächte wohl tatsächlich ein Gewinn an freien Kapazitäten. Wobei ich mich da nicht als Opfer der Industrialisierung betrachten kann. Es sind die Gedankenlosigkeiten der letzten Jahrzehnte, die da überall rumstehen.
Und wenn ich wieder auf meine Arbeit an der Stelle zurückkomme … vielleicht durchdenken wir diese heute so anderen Arbeitsprozesse nur nicht genug, um mit steigendem technischen Fortschritt mehr Zeit zu gewinnen?
These: „Größere Städte haben ein schnelles Tempo.“
Na sicher. Ein mehr an Möglichkeiten weckt ein Mehr an Begehrlichkeiten. Und die Wege werden oft länger. Und und und …
Levine bezieht sich hier auf Studien von Herbert Wright, dem australischen Psychologen Paul Amato und dem Psychologen Marc Bornschein. In Bornscheins kulturübergeifenden Studien ergab sich in zwei Testreihen eine hohe mathematische Korrelation von r= 0,91 und 0,88 (1,0 wäre der höchstmögliche Wert) zwischen der Einwohnerzahl und der Gehgeschwindigkeit der Einwohner. Faszinierend. Weil Kulturübergreifend.
These: „Heißere Orte haben ein langsameres Tempo.“
Egal, warum, aber dem ist so lt. Levine.
These: „In individualistischen Kulturen bewegt man sich schneller als in vom Kollektivismus geprägten.“
In den USA bewegt man sich schneller, als in Asien? Im Buch wird ausgeführt: In individualistisch geprägten Kulturen wird mehr Wert auf Leistung statt auf Zusammengehörigkeit gelegt. „Und diese Konzentration auf die Leistung führt normalerweise zu einer Zeit-ist-Geld-Einstellung, die wiederum in den Zwang mündet, jeden Augenblick irgendwie zu nutzen.“ Levines Untersuchungen haben das bestätigt. Hm.
These: „Die Zeit vergeht bei verschiedenen Menschen verschieden schnell“ (Shakespeare)
Levine bezeichnet das als den Schlag der eigenen Trommel. Das ist ganz sicher so. Ich kenne da so einen Extremvertreter ;), bei dem ich immer das Gefühl habe, er füllt die gleiche Zeit, die auch andere haben, mit doppelt soviel Leben und Aktivität. Unklar.
Levine sagt aber auch: „Wir sollten diese Ergebnisse über „langsame“ und „schnelle“ Menschen jedoch nicht zu sehr verallgemeinern. Wie bei den Kulturen, so kann auch bei einzelnen Individuen das Tempo abhängig von der Zeit, vom Ort und von der Tätigkeit stark variieren.“ Was für den jeweiligen Menschen bestimmt auch immens wichtig ist.
In dem Buch werden an dieser Stelle eine Reihe von Fragen gestellt, mit denen man über sein eigenes Zeitverhalten nachdenken soll. Ich hab sie gelesen. Ich sag jetzt nix dazu. Noch krasser fand ich die Beschreibung der sogenannten „Eilkrankheit“ auf S.52 (noch nie gehört). Ähm, ja.
Symptom des selbstgeschaffenen Zeitdrucks war:
„ … Verlust der Fähigkeit, angenehme Erinnerungen zu sammeln, vorallem aufgrund einer Unruhe in bezug auf kommende Ereignisse und des Nachgrübelns über Vergangenes, so dass wenig Aufmerksamkeit für die Gegenwart übrig bleibt. Die Konzentration auf die Gegenwart ist oft nur auf Krisen oder Probleme beschränkt; deshalb rufen auch die Erinnerungen, die man sammelt, meist unangenehme Situationen ins Gedächtnis zurück.“ (Ulmer und Schwartzburd “treatment of time pathologies“)
Ich sitze hier grad mit Stirnrunzeln. Und ich fühle mich irgendwie ertappt. Sicher auch deswegen, weil mein Presszeitmanagment in den letzten Monaten von lieben Freunden stark kritisiert wurde, ohne, dass mir selbst der Lösungsansatz wirklich klar ist.
Tröstlich an dieser Stelle: Levine kritisiert, dass das Konzept der Eilkrankheit die Konsequenzen eines „Lebens auf Hochtouren“ zu stark verallgemeinert. Er kritisiert die Zwangsläufigkeit der Unterstellung, dass aus Zeitdruck Krankheit folgt. Ich will hier nicht weiter auf die Untersuchungen Levines dazu eingehen. Aber ich finde die Schlussfolgerung logisch, dass nämlich manche Menschen ein schnelles Tempo brauchen, um sich wohl zu fühlen und andere eben nicht. Und das damit die Übereinstimmung oder eben die Nichtübereinstimmung des eigenen Temperamentes mit der physischen Realität entscheidend für das Zeitempfinden, das eigene Wohlbefinden und damit für die eigene Gesundheit ist.
Was mich betrifft, ich bin in vielen Lebenslagen eigentlich eine echte Schnecke, ein Träumer, ein Genießer. Ich war schon immer der bessere Ausdauersportler als der Sprinter. Nur ich lebe im allgemeinen nicht danach.
„Ein individuelles Tempo ist nicht automatisch gut oder schlecht. Es ist unsere ganz persönliche Angelegenheit, was wir mit der Zeit anfangen.“
Das kann man einfach mal so stehen lassen. ![]()
Und Tempo ist nicht gleich Takt des eigenen Lebens. Auch wenn wir das meist nichts so deutlich in Sprache unterscheiden. Levine meint, „Takt des Lebens“ ist viel mehr; mehr als nur schnell oder langsam.
„Es ist diese Überlagerung und wechselseitige Verbundenheit des Tempos mit den vielen Dimensionen der sozialen Zeit, die … den Lebenstakt ausmacht, den die Menschen erfahren.“
Zu den anderen Dimensionen der sozialen Zeit kommt Levine in den folgenden Kapiteln. Was das Tempo als eine dieser Dimensionen betrifft, ist nunmehr klar, dass der Ort dies maßgeblich bestimmt und trotzdem der Mensch nicht Opfer seiner Umgebung ist. Jedenfalls nicht in letzter Konsequenz. Die Einflussfaktoren sind komplex genug, so dass es einem schon gelingen müsste, einen Lebensort zu finden, der die eigene Physis mit der Persönlichkeit des Ortes in Einklang bringt.
Was die Beschleunigung der sozialen Zeit angeht, lies vielleicht einfach noch mal die “Beschleunigten Aha-Effekte” (hier). Die gegenseitigen Abhängigkeiten der Beschleunigungsdimensionen sind der Schlüssel. Was das persönliche angeht: Ich habe den Eindruck, das meine intrinsischen Ambivalenzen – hier die Wuselei, das “Wegmachen” der Dinge, dort die Ablehnung vor Kreativität-tötender Planung – ein ziemlich gesunde Lebensweise ist, ohne dass ich das theoretisch unterfüttern kann oder muss. Ich habe gestern gehört, dass ein 40%-Zeitpuffer ein ganz globales Maß sein soll. Hört sich viel an, oder? Übrigens, auch eine Erkenntnis aus dem “Zeitmanagement”: dieser so genannten DISG-Test zeigt (in seinem Zeit-bezogenen Teil) bei mir eine Doppelspitze bei I und G. Das dürfte so manche Schizophränie, besser innere Zerrissenheit erklären, andererseits vielleicht durchaus ausgleichend wirken. Kann man vertiefen, wenn man will. Muss man aber nicht.
Ja kann man vertiefen
Der wird Levine folgen. Ich hab irgendwie das unterschwellige Gefühl, ich muss mir das Thema ausführlich, gewissenhaft und in Ruhe angucken, wenn ich es verstehen will.
Hartmut Rosa hab ich übrigens auch mit dabei.
Deine intrinsischen Ambivalenzen passen übrigens sehr gut zu Dir. Weil, nur in genau der Kombination kannst Du sehr kreativ sein (was Du auch bist), ohne im Chaos zu versinken. Dein “die-Dinge-gleich-Wegmachen” schafft den Raum und die Freiheit. Ich hab es am Anfang für pedantisch gehalten. Aber das ist es eben nicht.
PS: Über die 40% muss ich erstmal nachdenken.
Da man bei Nr. 3 nicht kommentieren kann, sag ich’s mal hier: Diese ma-Dingsda find ich total spannend!
ja, ich auch
das war der hurtigruten-internetteufel. der war gestern gut unterwegs, kann ich dir sagen *grrr*
ps: jetzt kann man übrigens wieder kommentieren.